Das Eigentor-Dilemma

Der Auswärtssieg in München war aus mehreren Gründen eine Umkehr der bisherigen Saison. Nicht nur, dass die Mannschaft von Peter Bosz wieder gegen ein Top-Team gewinnen konnte, auch das Glück lag auf Leverkusener Seite. Nur eine Woche zuvor im Spiel gegen den SC Freiburg wurden sehr viele Möglichkeiten liegen gelassen, in München traf dies die Bayern in noch tragischerer Art und Weise. Doch dieses eine Spiel darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Bayer 04 dennoch erschreckend ineffizient vor dem gegnerischen Tor ist. Im folgenden werde ich diese These begründen und näher auf sie eingehen.

Das werde ich mit Expected Goals tun. Dies ist eine Metrik, die versucht die Qualität von Torabschlüssen zu messen, indem sie jeden Schuss einer Wahrscheinlichkeit zuordnet. Die Modelle funktionieren jeweils im Detail unterschiedlich, sie kommen einem möglichst objektiven Bild aber allemal näher als eine einfache Torschussstatistik. Wie entstehen die Wahrscheinlichkeiten? Der einfachste Erklärungsweg sind Elfmeter: Etwa 75% aller Elfmeter werden verwandelt, ein Strafstoß hat daher einen xG-Wert von 0,75. Kommt es allerdings zu keinem Abschluss, so findet eine Szene auch keine Berücksichtigung. So hätte Bayern München kurz vor der Pause ausgleichen müssen, schließlich liefen Gnabry, Perišić und Müller alleine auf Hrádeckýs Tor zu, auftauchen tut diese Szene aber weder in einer Schussstatistik noch im Expected-Goals-Modell, denn Lars Bender konnte den Ball rechtzeitig grätschen.

Die im folgenden verwendeten Daten stammen von statsbomb. Ich habe für jeden Spieler mir die Expected Goals (xG) genommen, die Differenz zur Realität (G-xG) errechnet und sie in der Tabelle dargestellt. Die beiden Partien im DFB-Pokal fanden allerdings aufgrund fehlender Datenlage keine Berücksichtigung.

Die Leverkusener Spieler hätten statistisch gesehen 31 Tore schießen müssen, konnten den Ball aber nur 21 Mal im gegnerischen Tor unterbringen. Das ist eine signifikante Abweichung, man könnte auch von einer Katastrophe sprechen. Fast alle Spieler haben eine negative Differenz, Bailey sticht als Einziger positiv heraus. Diaby (-1,1), Volland (-1,6), Amiri (-1,9) und Bellarabi (-2,0) haben jeweils eine Differenz größer als eins, sind also – statistisch gesehen – besonders ineffizient.

Allerdings habe ich ganz bewusst die sechs Eigentore außer Acht gelassen. Ebenfalls ein signifikanter Wert, der die Analyse nun allerdings erheblich verkompliziert. Im Ergebnis ist es egal, ob ein Spiel durch einen Strafstoß von Havertz, einen Kopfball von Alario oder durch ein Eigentor von Niederlechner gewonnen wird. Und obendrein betont man im Verein, dass das ganze System hat. Die Süddeutsche Zeitung titelte „Konzept Eigentor“ und zitierte Rudi Völler mit den Worten: „Unser Trainer hatte es ja auch vorausgesagt. Bei der Art und Weise, wie wir Eckbälle schießen oder Bälle von außen reinbringen, bleibt es nicht aus, dass das eine oder andere Eigentor fällt.“ Und in der Tat fallen Eigentore nicht einfach so, auch sie müssen erzwungen werden. Folglich liegt die Mannschaft im Ganzen nicht zehn Tore hinter dem statistischen Modell zurück, sondern nur vier. Diese Eigentore sind also positiv für Tabelle und Statistik, sie machen Leverkusen effektiver vor dem gegnerischen Tor aber doch keineswegs effizienter.

Schauen wir uns die Abschlussmöglichkeiten genauer an, zuerst mal alle selbst erzielten Bundesligatore. Die Datengrundlage weicht von der oberen Tabelle ab, ich muss nun Daten von understat verwenden und lasse auch die Champions League außer Acht, was nicht gänzlich optimal ist, die Aussage aber nicht verzerren dürfte. Leverkusens Bundesligatore haben xG-Werte von: 0,03, 0,04, 0,04, 0,05, 0,06, 0,09, 0,09, 0,12, 0,29, 0,31, 0,38, 0,50, 0,54, 0,58, 0,58, 0,58, 0,58, 0,67 und 0,73. Dem ersten Gefühl nach befinden sich überdurchschnittlich viele Tore xG < 0,10 in der Datenreihe. Wäre dem so, gäbe es folgende Erkenntnis: Die Leverkusener sind unterdurchschnittlich effizient; aus schwieriger Position aber überdurchschnittlich gut. Ein schwer erklärbarer Befund, doch trifft er auch zu?

Dazu braucht es im Vergleich einen Blick auf die vergebenen Chancen. Dieser Datensatz hat 214 Zeilen, ich werde ihn hier also nicht vollständig aufführen. Wenig überraschend ist ein Großteil dieser Werte sehr klein. Der Median, also der in der Mitte stehende Wert einer geordneten Datenreihe, liegt bei 0,05, das heißt, dass 50% aller Schüsse einen xG-Wert von ≤ 0,05 haben, 25% sogar ≤ 0,03.

Nun kann man mit einer so großen Datenmenge aber nicht vernünftig arbeiten. Daher hilft sicherlich die Annahme, alle Schüsse xG < 0,10 als das zu begreifen, was sie in der Theorie auch sind, nämlich ein eher aussichtsloses Unterfangen. Abschlüsse hingegen mit xG ≥ 0,10 definiere ich als „vernünftigen Versuch“.

Damit haben wir die Tore: 0,12, 0,29, 0,31, 0,38, 0,5, 0,54, 0,58, 0,58, 0,58, 0,58, 0,67 und 0,73 und die vergebenen Chancen: 0,10, 0,11, 0,11, 0,11, 0,11, 0,11, 0,11, 0,11, 0,12, 0,12, 0,12, 0,12, 0,13, 0,14, 0,22, 0,25, 0,26, 0,26, 0,27, 0,28, 0,29, 0,32, 0,32, 0,32, 0,34, 0,37, 0,37, 0,38, 0,38, 0,38, 0,39, 0,45, 0,47, 0,48, 0,58, 0,58, 0,59, 0,63, 0,71, 0,81. Auf den ersten Blick fällt erstmal das Kuriosum auf, dass Leverkusens beste Bundesligachance dieser Saison nicht den Weg ins Tor fand (Diaby in der 67. Minute gegen Freiburg). Alle „vernünftigen Versuche“ addiert ergeben in Summe xG = 18,18. Allerdings führten all diese Chancen nur zu zwölf Treffern. 51,5% mehr dieser „vernünftigen Versuche“ hätten dem Modell nach in einem Tor resultieren müssen.

Insgesamt gibt Understat für die Bundesliga einen xG-Wert für Leverkusen von 26,93 an. Geschossen wurden selbst allerdings nur 19 Tore. Folglich ergeben alle Abschlüsse mit xG < 0,10 in Summe xG = 8,75 (26,93-18,18). Die Spieler erzielten durch all diese Schüsse aber nur 7 Tore (19-12). 51,5% mehr der „vernünftigen Versuche“ hätten dem Modell nach in einem Tor resultieren müssen, darauf kamen wir eben, nun wissen wir, dass auch 25% mehr Tore aus den „unvernünftigen Versuchen“ hätten entstehen müssen. Insgesamt hätte Leverkusen damit – statistisch gesehen – 41,737% mehr Tore schießen müssen.

Der erste Eindruck stimmt daher so halb. Bei den größeren Chancen ist Leverkusen signifikant ineffizienter als bei den kleineren, aber der entscheidende Punkt ist: Egal von wo geschossen wird, ineffizient zeigt sich Leverkusen immer. Und das kann ich an dieser Stelle leider nicht erklären. Aber es ist natürlich ein großes Problem, wenngleich es auch positiv ist, dass sich viele aussichtsreiche Chancen erspielt werden können. Da man sich aber wohl nicht ewig durch Eigentore die eigene Statistik schön rechnen kann, sollte die Mannschaft dringend an der eigenen Effizienz arbeiten.

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