Es reicht.

Man kann alles fragen, fordern und kritisieren. Man kann sich nun im Oktober schon die Frage stellen, ob Peter Bosz noch der richtige Trainer ist, man kann auch den Rausschmiss aller Spieler fordern oder auch kategorisch immer Julian Baumgartlinger kritisieren, all das kann man machen, aber man darf nicht erwarten, dass jede Äußerung ohne Widerspruch bleibt. Und wenn ich mich durch viele Diskussionen klicke, für diesen Text habe ich das in einer mir nicht guttuenden Art und Weise getan, drängt sich mir wahnsinnig viel Widerspruch auf. Deshalb folgt nun ein für diesen Blog erstaunlich offensiver Gegenschlag, wo ich auf ein paar Punkte grob eingehe, die oft genannt werden, die ich aber wirklich unsinnig finde.

Peter Bosz, so sagen erstaunlich viele, wiederhole seine Fehler aus Dortmund.

Diese These wird oft genannt, symptomatisch ist aber, dass fast nie gesagt wird, was denn seine Fehler in seiner Dortmund-Zeit waren. Das macht es im Umkehrschluss natürlich auch schwer, dazu etwas zu sagen. Peter Bosz nennt als einen seiner Fehler den zu großen Kader. Dies schlug sich negativ auf die Stimmung aus und ihm gelang es nicht, in der ersten Transferperiode mit den anderen Verantwortlichen auf einen kleineren Kader hinzuarbeiten. Ich vermute, dass dieser Fehler nicht gemeint ist. Leverkusen hat einen sehr kleinen Kader.

Ich vermute, man meint den Fehler, dass er taktisch sehr stur war. Sein Lieblingssystem ist das 4-3-3, er ließ es in Dortmund spielen, er ließ es vorher spielen, er ließ es in Leverkusen spielen. Als in der vergangenen Rückrunde aber Bailey und Bellarabi ausfielen, stand Peter Bosz vor einem Problem, denn ein 4-3-3 ohne Flügelspieler ist schwer denkbar. Er hätte dogmatisch an der Formation festhalten können, Roger Schmidt hätte dies getan, tat dies aus guten Gründen allerdings nicht. Es gab daraufhin den Wechsel zum 3-6-1. Das war der Anfang einer größeren taktischen Flexibilität, die sogar noch ausgebaut wurde. Nachdem die taktische Umsetzung gegen Leipzig in der ersten Halbzeit völlig misslang, reagierte Bosz defensiv. Auf der Pressekonferenz nach dem Spiel sagte er: „Das erste Mal seit ich da bin haben wir tiefer gestanden und dann haben wir die Räume weggenommen.“ Diese Umstellung war nicht Teil eines größeren Plans und auch nicht sonderlich kompatibel mit Bosz’ Fußballphilosophie, es war eine taktische Reaktion, weil Plan A misslang. Das ist das Gegenteil von Sturheit. Ich verstehe nicht, wie man das negieren kann. Außer man hält es schon für stur, dass Ballbesitzspiel sein Credo bleibt und man eigentlich erwartet, dass Leverkusen situativ zwischen Ballbesitzspiel, Schmidt’sches Angriffspressing und Defensivfußball à la Di Matteo wechselt, bestenfalls noch unterbrochen mit einer guten Anpassung an den Gegner wie man es von José Mourinho kennt. Ja, dann ist Bosz stur. Dann ist jeder Trainer stur, der es weiter als in die Kreisklasse schaffte.

Passend dazu: Die stetige Hoffnung von einigen, dass Leverkusen doch bitte nicht mit einer Dreierkette verteidigen soll.

Dahinter steckt, so denke ich, die defensive Stabilität, die einige gefährdet sehen, wenn die Formation mit einer „3“ statt einer „4“ beginnt. Allerdings verteidigt Leverkusen nie, wirklich nie mit einer Dreierkette gegen den Ball. Nicht im 4-3-3, nicht im 3-6-1, einfach nie. Bosz lässt immer mit einer Viererkette gegen den Ball verteidigen. Beim 3-6-1 steht deshalb eine „3“ vorne, weil Leverkusen mit asymmetrischen Außenverteidigern spielt. Das heißt, dass im Ballbesitz ein Außenverteidiger aus der Kette herausrückt (Weiser), währenddessen der andere (Wendell) auf Höhe der Innenverteidiger bleibt. Da Bayer 04 sehr viel Ballbesitz hat, ergibt das in der realtaktischen Aufstellung eine Dreierkette. Sobald der Gegner allerdings im Ballbesitz ist, lässt sich der vorgeschobene Außenverteidiger fallen, sodass wieder vier Verteidiger auf einer Linie verteidigen.

In einem in den sozialen Medien viel gelobter Text dieser Woche schrieb der Autor: „Zudem tut die Dreierkette in der Abwehr Leverkusens nicht gut. Die Leistungen von Sven Bender, Jonathan Tah und Aleksandar Dragović zeigen deutlich, dass ihnen die Arbeit im 3-2-4-1-System (andere Formulierung für 3-6-1, Anmerkung von mir) nicht liegt. Warum man erfahrene Profis in ein ihnen ungewohntes System steckt, ist fraglich und schlicht sinnlos.“ Diese Passage leuchtet mir null ein. Erstens, weil gar nicht mit einer Dreierkette verteidigt wird. Zweitens, weil das System nicht ungewohnt ist, sondern seit mehreren Monaten gespielt wird. Drittens, weil die Ursachen für die Leistungen der drei Verteidiger an anderen Stellen zu suchen sind, da sie auch jeweils unterschiedliche Defizite haben und zuletzt viertens: Wenn man erfahrene Profis nicht in ungewohnte Systeme stecken dürfte, so hieße das in letzter Konsequenz einerseits, dass Profis ihre ganze Karriere lang im gleichen System spielen müssten und andererseits, dass ein Systemwechsel nur dann sinnvoll ist, wenn man ihn mit unerfahrenen Jugendspielern vollzieht.

Eine Kommentatorin forderte aufgrund der Passquote, dass im Training mehr mit Ball trainiert werden soll. 

Abgesehen davon, dass Leverkusen eine sehr hohe Passquote hat, ich das Problem also schon einmal gar nicht sehe, möchte ich doch gerne noch anführen, dass Peter Bosz immer mit Ball trainieren lässt. 

Exkurs: Eine hohe Passquote ist für Leverkusen nicht unbedingt ein positives Indiz. Gegen Hoffenheim hatte Bayer eine Passquote von 86,6% (Bundesliga-Durchschnitt in der Saison 2018/2019 waren 79,3%), was vor allem daran lag, dass es eine hohe Ballzirkulation zwischen den Verteidigern ohne jegliche Raumgewinne gab. Die Passgenauigkeit in der eigenen Hälfte lag in diesem Spiel bei 95,6%. Spielt man sehr viele Pässe in der eigenen Hälfte, so ist dies ein Indiz für ein schwaches Aufbauspiel, gleichzeitig treibt man aber die Passgenauigkeit hoch.

Viele kritisierten Leverkusens Wohlfühloase, wo alles von den Verantwortlichen positiv geredet wird.

Peter Bosz sagte nach dem Spiel in Frankfurt: „Ich habe Mitchell Weiser rausgenommen, weil ich insgesamt nur dreimal wechseln darf. Sonst hätte ich die anderen zehn Spieler vielleicht auch gewechselt.“ Leverkusens Spiel in den ersten zwanzig Minuten nannte Kevin Volland am selben Abend „miserabel“. Wer redet in dieser Saison [sic!] hier etwas schön?

Regelmäßig meinen welche, die Fokussierung auf Ballbesitz sei das wirkliche Problem.

„Wichtig ist allerdings, die Ursache zu finden. Mutter aller Probleme ist – und das ist kaum zu übersehen – der Ballbesitzfußball.“ Ich zitiere wieder aus dem angesprochenen Text und ich glaube, ich brauche eine Brille.

Diesem Text rechne ich wirklich positiv an, dass er eine Begründung mitliefert. Denn wie gesagt, jede Einschätzung zu Bayer 04 ist legitim, wenngleich nicht jeder jeden Kommentar teilen muss, aber für den Diskurs ist eine Meinung insbesondere dann förderlich, wenn sie konstruktiv argumentativ unterlegt ist. Die angeführte Begründung ist folgende: „Der Ballbesitz verhindert die Konzentration auf die eigenen Stärken.“ Mir leuchtet überhaupt nicht ein, warum es für einen Fußballer hinderlich ist, den Ball am Fuß zu haben. In meinen Augen ist das Spiel mit dem Ball sogar die große Stärke von Fußballern. Der Hintergedanke des zitierten Textes ist die Forderung, Konterfußball zu spielen. Denn im Weiteren wird die Schnelligkeit von Bellarabi und Co. genannt, die aktuell aber nicht zum Tragen käme. Abgesehen davon, dass ich auch die Beobachtung nicht teile, schließlich sticht für mich Bellarabi in jedem seiner Einsätze mit seinem Tempo hervor, so sehe ich auch nicht, dass von der Veranlagung her Leverkusen über Offensivspieler verfügt, die nicht mit Bosz’-Philosophie kompatibel sind. Zudem verbesserten sich Bailey und Bellarabi mit dem Trainerwechsel, vorher hatten sie ein wirkliches Formtief.

Im Übrigen spielt Leverkusen Ballbesitzfußball auch nicht einfach nur so, weil Bosz sich dachte, Ballbesitz könnte doch auch eine Taktik sein, sondern weil es einen großen Vorteil hat. Wenn man selbst den Ball hat, kann der Gegner kein Tor schießen. Und ruft man nun laut ins Internet hinein, dass Leverkusen mit Ball auch kein Tor schießt, dann hat man einen guten Punkt. Aus dem Ballbesitz heraus ist Leverkusen zu ungefährlich in dieser Saison. Ich habe mich in einem ganzen Artikel dieser Problematik gewidmet. Aber das Problem ist nicht, dass die Mannschaft den Ball hat, das Problem ist, dass man nicht gut genug mit dem Ball spielt.

Der Bauern-Trick für viele Likes.

Ginge es mir darum, mit geschriebenem Wort möglichst viel positive Resonanz hervorzurufen, so würde ich keine Texte mit knapp 1.800 Wörtern schreiben, das ist für ein solches Anliegen wirklich kontraproduktiv, ich würde emotional und schimpfend fordern, dass die Spieler sich gefälligst den Arsch aufreißen sollen, schließlich fehlt das Feuer, der Ehrgeiz, schlichtweg die Mentalität. Optimal ergänzt man diese Forderung noch um eine Portion Kapitalismuskritik und verweist auf die Spielergehälter. Das ist eine intuitive Forderung, die jeder versteht und daher plausibel klingt. Da es mir aber um den Diskurs geht, finde ich es so ermüdend. Es fängt schon damit an, dass jeder eine unterschiedliche Definition von Mentalität hat, die Indikatoren reichen von der Laufleistung, über die Zweikampfquote, über die Anzahl an gelben Karten, über die Anzahl an Sprints und intensiven Läufen bis hin zum Stellungsspiel. Aber mein wirkliches Problem mit dieser Debatte ist, dass man den wichtigen mentalen Faktor beim Fußball mit einer einfachen Erklärung, mit einem simplen Wort abwürgt.

Ein Kommentator nannte „ausbleibende Werbepartner“ als ein Symptom Leverkusens Niedergangs.

SPONSORS veröffentlichte in diesem Sommer eine Übersicht über die aktuellen Sponsoringerlöse. In dieser Tabelle findet man einerseits, dass beispielsweise mit Kumho Tyre neue Partner dazu kamen oder mit Barmenia bestehende Verträge verlängert wurden, andererseits sollen die Erlöse in den vergangenen zwei Jahren um knapp 23% gestiegen sein. Niedergang sieht anders aus.

Kategorische Kritik an Julian Baumgartlinger. 

Julian Baumgartlinger ist schlecht, langsam, grauenhaft, spielt nur Fehlpässe und habe ich schon gesagt, dass er schlecht ist? Das ist nicht meine Meinung, ich habe mir die Attribute allerdings auch nicht ausgedacht, das haben andere getan, die wahrscheinlich das Verb „ausdenken“ brüskiert. Wenn man mit einer solch binären Einstellung auf den Österreicher blickt, bringt das niemandem etwas. Denn man sollte die Spieler nicht aus dem Kontext ziehen, wenn man sie bewertet. Ausführlich habe ich mich zuletzt mit Demirbay auseinandergesetzt, wo meine These ist, dass seine Leistung stark von der Aufstellung abhängig ist. So ist es bei Baumgartlinger auch. Auf der alleinigen Sechs im 4-3-3 überzeugte er diese Saison absolut nicht, im 3-6-1 war es besser. In der letzten Saison war seine Pressing-Resistenz viel auffallender, im Zweikampfverhalten finde ich ihn diese Saison aber unverändert gut. Es ist selten schwarz oder weiß.

Einen Kommentar las ich auch, wo sich echauffiert wurde, dass er keine Torgefahr ausstrahlt. Er muss auch primär keine Tore erzielen, er ist Sechser. Ein letztes exemplarisches Beispiel dafür, warum ich diesen Text schrieb.

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