Anspruch und Wirklichkeit liegen bei Kerem Demirbay aktuell noch spürbar auseinander. Das ist erstmal gar nicht so problematisch. Der Mittelfeldspieler ist Leverkusens teuerster Einkauf der Vereinshistorie, dementsprechend hoch ist der Anspruch und die Wirklichkeit besteht eben erst aus sieben Startelfeinsätzen. Daher ist jetzt definitiv nicht der Zeitpunkt, um voreilig Bilanz zu ziehen, das ist aber gleichzeitig auch kein Hindernisgrund, um sich mal mit ihm und seiner Rolle näher auseinanderzusetzen.
Angesprochen auf die Frage, ob Demirbay Julian Brandt ersetzen könne, sagte Peter Bosz im Interview mit der 11Freunde-Redaktion: „Ich habe gelesen, dass Sie und Ihre Kollegen sich das wohl überwiegend so vorstellen. Aber Demirbay ist ein komplett anderer Spieler. Es kommt doch auch keiner auf die Idee, dass Kevin Volland die Rolle von Julian übernimmt. Es wird mein Job sein, dass unsere Philosophie erhalten bleibt, ich aber gleichzeitig aus den Qualitäten dieses Spielers das Optimale heraushole.“ Schließlich ist Demirbay kein Zehner, sondern ein zentraler Mittelfeldspieler. Für die offensivere Rolle ist er zu langsam, nicht stark genug im direkten Duell und wahrscheinlich auch nicht torgefährlich genug.
Zu den Grundprinzipien von Peter Bosz zählt es, zwei Zehner aufstellen zu lassen. Im 4-3-3 gibt es folglich nur einen Achter, im 3-6-1/3-2-4-1 zwei Achter, ebenso wie im defensiveren 4-2-3-1/4-4-2, welches es neu in der zweiten Halbzeit gegen Leipzig und zuletzt gegen Atlético Madrid zu beobachten gab.
Wenn Bosz diesem Prinzip treu bleibt, hat es Demirbay im 4-3-3 schwer, denn Aránguiz ist gesetzt, sofern er fit ist. Aránguiz und Demirbay könnten allerdings ohne Probleme prinzipientreu zusammenspielen, beispielsweise im 3-6-1/3-2-4-1. Doch in einigen Spielen dieser Saison stand zudem auch noch Julian Baumgartlinger mit auf dem Feld und für diese drei Spieler boten die Formationen jeweils nur zwei Plätze. Die Konsequenz war, dass in der realtaktischen Aufstellung Demirbay deutlich offensiver stand. Gegen Paderborn in der Nähe von Havertz und gegen Juventus Turin gar auf der Höhe von Alario. Das ging mit Ansage daneben.
Anders war das Spiel in Düsseldorf, es mag auch der stärkste Auftritt von Demirbay gewesen sein. Bei der Fortuna kehrte Bosz erstmalig seit langer Zeit wieder zum 4-3-3 zurück, distanzierte sich aber zugleich auch ein wenig von seinem Doppel-Zehn-Prinzip. „Ein wenig“, weil einerseits Demirbay als tiefstehender Spielmacher agierte. Somit nicht als Zehner, sondern tiefer stehend, mit viel Raum vor sich und damit war er entscheidend für Aufbau und Struktur des Spiels. Andererseits war er aber auch nicht so intensiv in die Defensivarbeit eingebunden wie Aránguiz, sein Spiel wich also auch von dem des Chilenen ab.
Doch auch diese Aufstellung hatte nicht lange Bestand, besonders als später Bellarabi und Bailey ausfielen. Ohne native Flügelspieler ist das 4-3-3 schwer denkbar. Gleichzeitig entstand in den letzten beiden Spielen aber auch nicht die Gefahr eines zu hoch positionierten Demirbays, denn er konnte gar nicht mit Baumgartlinger und Aránguiz zusammen auf dem Platz stehen, schließlich war Letzterer verletzt. So stand Demirbay wieder tiefer auf der Acht neben Baumgartlinger, der als Sechser agierte. So zu beobachten gegen Frankfurt, wo er auf zwei Key Passes und vier Interceptions kam, sowie bei zwölf der Schüsse bei der Entstehung beteiligt war, alles überdurchschnittliche Werte.
Nichtsdestotrotz mündete die richtige Position allein nicht automatisch in den Leistungen, die man von ihm erwarten darf. Wichtig in seiner Rolle ist die ständige Anspielbarkeit, doch zuletzt fiel er auch durch technische Fehler und Schwierigkeiten im Positionsspiel auf. Sein Spiel kam so phasenweise nicht zum Tragen.
Nun ist die Saison aber einfach noch zu jung. Für eine detailliertere Beobachtung fehlt es ihm noch an Einsätzen, für eine Prognose gibt es noch zu viele Fragezeichen. Diese liegen im Personal, denn die Rückkehr von Aránguiz wird auch wieder Einfluss auf sein Spiel haben, diese liegen in der Formation, wo sich Bosz diese Saison erstaunlich flexibel zeigt und diese liegen in nicht ganz unbedeutender Weise auch beim Spieler selbst.
Zu guter Letzt möchte ich noch ein paar Zeilen über seine Standards verlieren, denn er kam auch mit der Hoffnung auf bessere Ecken und Freistöße. Seine ruhenden Bälle haben nichts mit seinem sonstigen Spiel zu tun, überzeugen aber auch noch nicht vollends.
Demirbay ist der Mann für die Bälle, die in den Strafraum geflankt werden. Direkte Freistöße aus kurzer Distanz übernimmt in der Regel Aránguiz und für die längere Distanz ist Bailey zuständig, woran es nichts auszusetzen gibt.
Was gab es bisher? Es gab den sehr schön gechipten Freistoß auf Aránguiz gegen Düsseldorf, sehr vereinzelt auch andere Torchancen, beispielsweise Sven Benders Kopfball nach einer Ecke im selben Spiel, manche Totalausfälle und über weite Strecken harmlose Bälle. Die Krönung dieser Aufzählung sind die 19 Ecken beim 0:0 gegen Hoffenheim. Ich glaube aber gleichzeitig auch, dass Leverkusens Harmlosigkeit bei Standards nicht primär an Demirbay liegt. Irgendwer muss die Eckbälle schließlich auch verwandeln. Und dafür kommen, wenn Alario nicht spielt – und er spielt regelmäßig nicht – nur die beiden Innenverteidiger in Frage und mit Abstrichen Havertz, der zwar groß ist, mir bei Ecken aber noch nicht besonders ins Auge fiel. Oftmals steht so kein kopfballstarker Stoßstürmer auf dem Feld, kein hochgewachsener Sechser und kein torgefährlicher Innenverteidiger. Fragt man Tah danach, wo er sein größtes persönliches Verbesserungspotenzial sieht, so spricht er stets zuerst seine Torgefahr an. Diese Problematik ist natürlich auch dem Trainerteam bekannt, so versucht man mit verschiedenen Eckballvarianten zu punkten. Die markanteste ist die, wo beinahe alle Spieler eng am ersten Pfosten stehen, was ein kurios lustiges Bild abgibt, aber noch nie funktionierte. Eine „Waffe“ sind Demirbays Standards jedenfalls noch nicht und ob sie das irgendwann mal werden, hängt wohl nicht nur von ihm ab.