Als Peter Bosz in Apeldoorn seine Trainerkarriere begann und im ersten Spiel auf Feyenoord Rotterdam traf, hatte er nach eigener Angabe „wirklich keine Ahnung“, was er tun musste. Aber er war, so führte er weiter aus, „immer nervös, wenn der Gegner den Ball hatte und wenn wir den Ball hatten, immer ruhig“. Mannschaften von Bosz haben seitdem sehr hohe Spielanteile. Doch Ballbesitz darf kein Selbstzweck sein, er muss mit Funktionen besetzt sein. Für das Angriffsspiel bedeutet dies, dass die hohe Kontrolle dafür genutzt werden muss, Chancen zu kreieren. Doch genau dies gelingt bisher nicht. Nachfolgend versuche ich anhand vergangener Spiele dieses Paradoxon aufzudröseln.
Was der Plan ist.
Bosz‘ Spielsystem ist sehr markant. Wenn die gegnerische Mannschaft kontrolliert am Ball ist, lässt er ein Angriffspressing mit einem hoch anlaufenden Dreiersturm spielen, nach einem eigenen Ballverlust fordert er ein intensives Gegenpressing. Schon bei Ajax etablierte er die sogenannte Fünf-Sekunden-Regel. In diesen ersten Momenten soll die Mannschaft möglichst den Ball schon wieder zurückerobern, da es ungefähr fünf Sekunden dauert, bis eine Mannschaft nach einem Ballgewinn wieder in geplanter Formation steht. Daher sei ein Ballgewinn in dieser Phase am einfachsten und effektivsten. Pressing zählt mittlerweile zum Repertoire jeder Fußballmannschaft, die Differenzierung erfolgt nur noch noch in der Intensität, der Höhe und der Art des Anlaufens. Leverkusens intensive Art ist im Rheinland schon durch Roger Schmidt gut bekannt, im Vergleich zu diesem legt der Niederländer aber deutlich mehr Wert auf den eigenen Ballbesitz.
Grundsätzlich will Bayer 04 möglichst flache Bälle spielen. Auch gegen aggressivere Teams soll flach von hinten eröffnet werden. Der Gegner wird geduldig bespielt, die extrem hohen Ballbesitzwerte sind so zu erklären, bis das ballsichere Mittelfeld gefunden wurde. Beide Achter agieren dabei eher als Zehner, denn sie schieben weit vor, sollen die gegnerischen Sechser binden und klare Pässe in die Tiefe ermöglichen. Sie kreieren zudem jeweils ein Dreieck mit dem Außenverteidiger und dem Außenstürmer, eine klassische Dreiecksbildung, sodass auch im engen Raum immer eine Anspielstation besteht. Wenn der Gegner Überzahl herstellen kann, muss die Situation meist aufgelöst werden, gegebenenfalls indem der Ball zurück zu den Innenverteidigern gespielt wird. Die Außenverteidiger im 4-3-3 dienen grundsätzlich eher weniger dem Spielaufbau, sondern sind Anspielstation für die Innenverteidiger, wenn keine Vertikalpässe gespielt werden können. Der Gegner muss daraufhin verschieben und Leverkusen erhofft sich, dass durch die ständigen Verlagerungen Lücken entstehen. Zuletzt konnte man aber auch beobachten, wie Wendell mit Ball in die Mitte zog, um mehr Variation ins Spiel zu bringen.
Das hat theoretisch einen großen Vorteil. Wenn man zuerst übers Zentrum spielt, muss sich der Gegner dort eng zusammenziehen, um in diesem gefährlichen Raum kompakt zu stehen. Das wiederum schafft Platz für die Außenspieler. Wird das Spiel hingegen direkt über die Flügel aufgebaut, kann der Gegner direkt zum Flügel verschieben und es ist meist schwieriger, die noch offensiveren Flügelspieler in Szene zu setzen.
Wo liegt nun also das Problem?
Nehmen wir das Spiel gegen Düsseldorf, viele fanden dies offensiv bisher am überzeugendsten. Drei Tore schoss die Werkself und es gab weitere prominente Möglichkeiten, den Spielstand zu erhöhen. Die Torschüsse resultierten allerdings entweder aus erzwungenen Umschaltmomenten oder aus Standardsituationen der unterschiedlichsten Art, inklusive Einwürfen. Aus dem kontrollierten Ballbesitz heraus entstanden hingegen genau null gefährliche Aktionen.
Havertz und Demirbay standen eine Linie offensiver als Aránguiz, dieser wurde vor allem von Karaman in Manndeckung genommen. Auch gegen Hoffenheim änderte sich dies nicht, auch in diesem Spiel stellte der Gegner das Zentrum gut zu und der Fan musste vergeblich auf einen kontrolliert erspielten Schuss (xG > 0.01) warten. Näheres dazu gleich. Das Gegenmittel gegen Leverkusen ergab sich wie von selbst: Aránguiz zu decken und das Zentrum kompakt zu halten, reichte oftmals. Gegen Borussia Dortmund war es dann Delaney, der Havertz freudig begleitete, wodurch die Optionen im Mittelfeld auch begrenzt wurden.
Diese gegnerische Spielweise sorgte für viel fruchtlosen Ballbesitz bei Bayer Leverkusen. Der Ball zirkulierte gemütlich von einem Verteidiger zum anderen, ohne nennenswerte Fortschritte. Wenn das Zentrum so zugestellt ist, sind die Innenverteidiger besonders gefordert. Jonathan Tah und Sven Bender gelang aber seltenst ein Pass in den Dreiecksraum Aránguiz/Havertz/Demirbay und lange Bälle landeten oft im Nichts. Schaut man sich die Passmaps aus den Spielen gegen Düsseldorf und Hoffenheim an, wird das Problem schnell klar. Nur 20% der Angriffe dieser Bundesliga-Saison wurden über das Zentrum eingeleitet, zusammen mit Fortuna Düsseldorf liegt Bayer 04 damit auf dem letzten Platz. Letzte Spielzeit lag Leverkusen mit 25% noch im guten Mittelfeld.
Havertz und insbesondere Aránguiz ließen sich daher gelegentlich zwischen die Verteidiger fallen. Der Spielaufbau konnte so kurzfristig verbessert werden, besagte Spieler fehlten dann aber im Umkehrschluss in den Räumen, wo sie eigentlich angespielt werden sollten.
Man macht es sich aber zu einfach, wenn man allein die Innenverteidiger verantwortlich macht. Nicht zuletzt auch, weil sich auf dieser Position im Vergleich zur sehr erfolgreichen Rückrunde nichts geändert hat. Es hängt auch mit Julian Brandt zusammen, der sich oftmals unorthodox zwischen den Linien in den Räumen bewegte, das sehr gut beherrschte, und so oft anspielbar war. Er spielt bekanntlich nun nicht mehr in Leverkusen und dieses Vakuum konnte bis dato noch nicht adäquat kompensiert werden. Gegen Paderborn wurde Demirbay quasi als originalgetreuer Brandt-Ersatz aufgestellt, das klappte erwartungsgemäß nicht. Eine Woche später kam er mehr aus der Tiefe, hatte das Spiel vor sich, wovon Spieler und Mannschaft profitierten. Gegen Hoffenheim konnte er daran aber nicht anknüpfen. Nadiem Amiri traue ich schon eher zu, Brandts Rolle zu kopieren, aber auch er steht diesbezüglich erst am Anfang seiner Entwicklung.
Hinzu kommt die Verunsicherung. Gegen Lokomotiv Moskau war sie für jeden sichtbar und resultierte regelmäßig in großen Böcken. Mir geht es nicht so sehr um die wirklich großen Ausrutscher von Hrádecký, Wendell, Tah und Co., sondern um die Bälle, die aufgrund der Verunsicherung nicht mehr gespielt werden. Beim Spielaufbau droht immer die Gefahr, dass der Gegner den Ball abfängt. Baut man aber vertikal auf, ist die Gefahr besonders akut, da der Gegner sich bei Ballgewinn sofort in einer aussichtsreichen Umschaltsituation befindet. Wenn die Verunsicherung so groß ist, dass herausgespielte Lücken aus Angst nicht mehr genutzt werden, wird Bayer Leverkusen aus dieser Misere keinen Ausweg finden und den Ball weiterhin unergiebig horizontal verschieben.
Fortschritte gegen Moskau.
Mir ist schon völlig bewusst, dass das erste Champions-League-Spiel im Ganzen ziemlich übel war. Ich werde jetzt allerdings nicht all die problematischen Punkte erneut durchdeklinieren, die sowieso jeder gesehen hat, sondern auf die kleinen Lichtblicke eingehen.
So gab es in der 30. Minute einen herausragenden langen Ball von Tah auf Bailey, was zwar – wie oben erklärt – nicht der gewünschte Aufbau ist, aber sicherlich wohlwollend toleriert wird, wenn sich die richtige Gelegenheit bietet. Einige Minuten später versuchte es noch einmal Sven Bender mit einem tiefen Vertikalpass, der zwar abgefangen wurde, aber einen guten Überblick offenbarte. Leider sah man aber kein Andribbeln von Tah mehr, welches er in der zweiten Halbzeit gegen Hoffenheim zeigte. Das waren zwar noch sehr zaghafte Bemühungen und zu leicht ließ er sich auch auf Außen abdrängen, aber auch das verbesserte den Aufbau. Leider blieb es bei dieser einen Halbzeit.
Aber – und das ist an dieser Stelle der entscheidende Punkt – es gab gegen Moskau überhaupt relevante Torchancen, die aus dem Ballbesitz heraus erspielt wurden. Es ist erschütternd, dass dies überhaupt eine Meldung wert ist, aber der Saisonstart hat die Maßstäbe verschoben.
Betrachten wir nachfolgend die Leverkusener-Schüsse anhand der xG-Daten. Dies ermöglicht einen objektiveren Blick als über die reine Torschussstatistik. Die Abkürzung xG steht für „Expected Goals“ und der Wert gibt an mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Ball von einer gewissen Position aus statistisch im Tor landet. 75% aller Elfmeter werden durchschnittlich verwandelt, ein Strafstoß hat daher einen xG-Wert von 0.75.
Es sticht vor allem Kai Havertz‘ Kopfball in der 50. Minute heraus (xG =0.48) (Quelle: Infogol, je nach Quelle variiert die Berechnung, daher auch die Ergebnisse, so wird das gesamte Spiel von den einen mit xG 2.03 zu 0.60 angegeben, von anderen mit 1.67 zu 0.82, das soll hier nun aber egal sein). Ein schnell ausgespielter Angriff, wo das Zentrum wieder ziemlich zugestellt war, das Flügelspiel aber sehr gut funktionierte. In der 52. Minute versuchte es Alario mit einem Grätschschuss ins kurze Eck, zuvor wurde so lange verschoben bis Tah eine gute Lücke auf Bellarabi hatte. Oder nehmen wir Havertz‘ Chance in der achten Spielminute. Leverkusen war in Ballbesitz, lange fanden die Innenverteidiger aber keinen Weg nach vorne. 25 Pässe dauerte es bis der Ball (erneut) bei Baumgartlinger landete, der Aránguiz im Zwischenraum sah, der wiederum auf Havertz weiterleitete, der in den Strafraum einlief und abschloss.
Das war alles viel zu wenig, zu oft war der Spielaufbau zu eindimensional und berechenbar, zu selten wurden Räume eröffnet, zu selten Pässe in die Halbräume gespielt, aber es war dennoch ein Fortschritt. Gegen Dortmund gab es nur eine nennenswerte Torchance, das war Bellarabi nach einer Umschaltsituation kurz nach der Pause (xG 0.58). Ansonsten war das Spiel von acht Distanzschüssen geprägt (jeweils xG 0.01), weil die Mannschaft keinen anderen Weg sah. Das war nun verhalten besser.
Lange Rede kurzer Sinn: Bayer Leverkusen hat in dieser Saison ein Problem mit den eigenen Spielanteilen. Ballbesitz allein bringt nichts, Leverkusen spielt aber so, als wäre es so. Und so schlecht das Spiel gegen Moskau auch war, bezüglich dieser sehr konkreten Problemstellung ließen sich Verbesserungen beobachten, wenngleich es in all den Verschlechterungen beinahe untergeht. Für mich war es tatsächlich trotzdem das beste Offensivspiel dieser Saison, weil erstmalig Lösungen für dieses Problem präsentiert wurden. Aber es schmerzt, das zu sagen, weil wenn das schon der beste Auftritt diesbezüglich war, sieht man, wie weit der Weg noch ist. Und denkt man an die große Verunsicherung, so kann man auch berechtigte Zweifel hegen, ob die Mannschaft darauf aufbauen kann.
Union Berlin wird erste Antworten liefern. In dieser Frage, aber auch Einblick gewähren, wie Peter Bosz sich nach einer englischen Woche Rotationen vorstellt. Es gibt viele Spieler, die ich gerne sehen würde, viele wurden bisher kaum bis gar nicht eingesetzt, Dragović zählt dazu. Im Aufbauspiel überzeugte er mich bisher. Bietet sich doch nun an, nicht wahr?