Saisonanalyse: Eine Saison wie ein Spiel gegen Hannover

Möchte man sich ein Bild von der Gefühlslage der Fans während der Saison machen, muss man nur das Spiel gegen Hannover betrachten. Stetige Hoffnung, sich noch für die Königsklasse zu qualifizieren, Tragik, als der erste Elfmeter verschossen und der zweite zurückgenommen wurde, offensiver Glanzfußball mit zahlreichen Chancen, zu wenig Toren und schlussendlich ein enttäuschender Ausgang, entstanden durch zwei einfache Gegentore. Gemischt mit der Trauer über den Abgang von Stefan Kießling, ein Umstand der in der gesamten Saison schon präsent war. Und letztlich bleibt die Qualifikation für die Europa-League. Aber wie ist das zu bewerten?

Bayer Leverkusen ist in die neue Spielzeit gegangen als Tabellenzwölfter, zwischenzeitlich sogar abstiegsgefährdeter Verein, der mit Toprak, Çalhanoğlu, Kampl und Chicharito vier wichtige Stammspieler verloren hat. Dann kam mit Herrlich ein neuer Trainer, der zwar bei Jahn Regensburg eine beachtenswerte Arbeit leistete, noch nie aber eine Trainertätigkeit in der ersten oder zweiten Bundesliga oder einer vergleichbaren Liga innehatte. Diese Ausgangssituation darf bei der Bewertung nicht vergessen werden.
Dementsprechend verhalten waren die Erwartungen und Ziele an diese Saison. Rudi Völler sprach zwar erneut von der Maßgabe „Europa“, wie auch schon in den Jahren zuvor, diesmal meinte er aber etwas anderes. Früher war das eigentliche Ziel die Championsleague, die verhaltenere Aussage diente zur medialen Absicherung, wenn es dann doch nur für die Europa-League reichte. Nun konnte niemand von der Championsleague ausgehen, das hätte nur von Arroganz und Realitätsferne gezeugt.
Demnach müsste die endgültige Platzierung der Werkself für höchste Zufriedenheit sorgen. Nicht nur, dass die Mannschaft sich für die Europa-League qualifizieren konnte, über die gesamte Spielzeit hinweg wurde zudem die Chance gewahrt, die Saison sogar noch erfolgreicher zu beenden. Doch genau diese Tatsache lässt einen mit dem anderen Auge nicht nur überglücklich auf die Saison schauen.

Kaderpolitik

Wie bereits erwähnt wurden einige Stammspieler verkauft, sodass der Verein 90,60 Mio. Euro einnehmen konnte. Reinvestiert wurden davon 56,00 Mio. Euro, verteilt auf vier Spieler. Ein- und Ausgaben hielten sich damit ungefähr die Waage, da die Nettoeinnahmen rund ein Drittel unter den Bruttoeinnahmen liegen. So bezifferte es vor kurzem Hans-Joachim Watzke, Geschäftsführer von Borussia Dortmund, und mir sind keine nennenswerte Argumente bekannt, warum diese Zahlen nicht auch für Leverkusen gelten sollten.
Aber, auch wenn sich Ein- und Ausnahmen ausglichen, die individuelle Qualität ist stark gesunken. Mit den Lehren dieser Saison vergisst man dies immer wieder, denn dass sich so viele Spieler so stark weiterentwickelten, und dass im Resümee der Mannschaftsgeist immer wieder im Besonderen gelobt wird, war noch nicht abzusehen. Erwartbar war hingegen, dass nicht mehr so viele Spieler benötigt werden. Folgerichtig wurde der Kader schlussendlich auf 23 verkleinert der kleinste der Bundesliga.
Die Bewertung der Vertragsverlängerungen von Tah und Brandt lässt sich auch ohne das Abwarten auf die Zukunft vornehmen. Besser hätte es nicht laufen können.

Die Hinrunde

Zu Beginn wurden viele Punkte liegen gelassen. Die Niederlage bei Bayern München, das Unentschieden gegen Hoffenheim und die Niederlage bei Mainz 05 führten nach drei Spieltagen nicht nur zu einem direkten Abstiegsplatz, sondern bildeten auch eine nahtlose Fortführung der Vorsaison. Auch wenn die spielerische Qualität durchaus respektabel war. Gegen Bayern verlor die Mannschaft achtbar, das Unentschieden gegen Hoffenheim war eine Farce. Das Spiel hätte Leverkusen gewinnen müssen. Mit der Niederlage gegen Mainz kamen die ersten Zweifel, der deutliche und überzeugende Sieg gegen Freiburg war aber die passende Antwort. Dann kam die Niederlage gegen die Hertha. Wieder Zweifel. Sind vielleicht gar nicht die Niederlagen die Ausnahmen, sondern die Siege? Die Partie gegen Hamburg erstickte diese Gedanken hingegen sofort wieder.
Es bildete sich ein Muster ab: Überzeugende Auftritte in den Heimspielen und enttäuschende Auswärtsspiele gegen schwächere Gegner. Dementsprechend schwierig war die Werkself zu dieser Zeit einzuschätzen. Zu begründen hingegen leicht: Es war der Saisonbeginn mit einer veränderten Mannschaft und einem neuen Trainer.

An dieser Stelle wusste man aber noch nicht, dass in der restlichen Hinrunde keine weiteren Niederlagen folgen würde. Diese Konstanz war, insbesondere im Vergleich zu den Vorsaisons, unvermutet und überraschend. Und auch die Rolle von Leon Bailey war bis dato unbekannt. Er war ein elementarer Grund für den weiteren Erfolg der Hinrunde. Für viele gilt er als bester Spieler dieses Zeitraums. Diese Auszeichnung erkämpfte er sich aber in den Spieltagen 6-17, vorher spielte er keine Rolle, danach war er nicht mehr wegzudenken. Ein verspäteter Neuzugang also.

Die Rückrunde

Sherlock Holmes hätte mich gerügt. Ich fing an über diesen Abschnitt nachzudenken und setzte mir den Aufbau im Kopf mit der Prämisse zusammen, dass die Hinrunde signifikant besser als die Rückrunde war. Zur einen Seite schaute ich auf die unglaubliche Konstanz, auf der anderen Seite hatte ich die Spiele gegen Berlin, Dortmund und Stuttgart im Kopf. Ich schaute mir die Anzahl der Tore (zehn weniger), die Anzahl der Heimniederlagen (vier mehr) und den Tabellenplatz an (einer niedriger) und füllte mich bestätigt.

Doch dieser rote Faden wäre falsch gewesen. Die Rückrunde war nicht schlechter als die Hinrunde. Nur ein Punkt wurde weniger geholt, von einer Signifikanz kann man da nicht sprechen. Was sich änderte, und ich eigentlich auch sofort hätte wissen müssen, schließlich widmete ich diesem Umstand bereits einen Artikel in diesem Blog, war die gestiegene Differenz zwischen erfolgreichen und unerfolgreichen Spielen. In der Hinrunde gab es nur drei Niederlagen, in der Rückrunde sechs. In der Hinrunde endeten 41% der Spiele in einem Remis, in der Rückrunde waren es nur 18%. Die höchste Niederlage in der Hinrunde war ein 1:3, in der Rückrunde ein 0:4.

In der ersten Hälfte nahm ich eine konstante Mannschaft wahr, die aber des Öfteren noch am Gegner und an sich selbst scheiterte. Berechtigte Hoffnungen auf eine ebenso konstante, in den entscheidenden Momenten aber entschlossenere Werkself verflüchtigten sich aber dann, als die ersten Heimniederlagen kamen. Und obendrein verdient waren. Insofern ließe sich argumentieren, die Chance auf die Königsklasse wurde doch in der Rückrunde verspielt, aber nicht wegen ausbleibender Punkte, sondern aufgrund fehlender Weiterentwicklung.
Anzeichen für diesen nächsten Schritt gab es, mit dem Pokalaus gegen Bayern brach dies aber wieder ein. Vorher zwei überzeugende 4:1 Siege gegen direkte Konkurrenten, danach zwei Niederlagen.
Notwendigkeit für Weiterentwicklung gab es. Gegen tiefstehende, sehr passive und auf Konter lauernde Mannschaften fehlte oftmals die Kreativität, Torchancen zu erspielen. Wenn es zu welchen kam, landeten nur 8,79% im Tor. Zwar legt Herrlich einen besonderen Fokus auf das Kurzpassspiel, weswegen nur selten lange Bälle oder Flanken geschlagen wurden, nichtsdestotrotz sind zwei Kopfballtore zu wenig. Bei Standards hat sich die Werkself zwar gesteigert, diese Zahl zeigt aber auch die Luft nach oben. Zudem zeugen 55 gelbe Karten und vier Platzverweise nicht besonders von Fairness. Nur Augsburg und Frankfurt stehen in dieser Tabelle noch unter dem Bayer.

Spieler

Spieler, die eine gute Saison gespielt habe? Leon Bailey, klar. Brandt war viel konstanter als zuvor, was in mehr Toren und Einsätzen resultierte. Eine ähnliche Weiterentwicklung ließ sich bei Havertz beobachten, sowie bei Tah, der mit einer unglaublichen Ruhe verteidigte und sich dabei nur eine einzige gelbe Karte abholte. Volland bewies seine Qualität mit der wohl stärksten Saison seiner Karriere, jenes trifft auch auf Kohr zu, der mit 28 Bundesligaspielen überraschend viele Einsätze hatte. Ρέτσος [Retsos] und Alario ließen sich auch nicht anmerken, dass es erst die erste Bundesligasaison für sie war. Und dann bleiben eine Reihe von sehr zuverlässigen und konstanten Spielern. Bender und Bender, Leno, Baumgartlinger, Aránguiz und so weiter und so fort. Ermöglicht wurde diese individuelle Qualität unter anderem auch dadurch, dass Leverkusen von Verletzungen weitestgehend verschont blieb.

Verlierer der Saison ist hingegen eindeutig Karim Bellarabi. Vor einem Jahr zählte er noch zum erweiterten Kreis der Nationalmannschaft, jetzt ist das undenkbar. Mit einem Tor und drei Vorlagen lässt sich das zurecht nicht rechtfertigen. Pohjanpalo muss man auch zu den Verlierern zählen, mit der Leistung lässt sich das aber weniger begründen. Die stimmte zwar, für eine gute Saison hatte er aber einfach viel zu wenig Einsätze. Und als sich in der Schlussphase die Chance auftat, fiel er verletzt aus. Benjamin Henrichs gelang auch nicht der nächste Schritt, seine Zukunft in Leverkusen bleibt fraglich.
Marlon Frey und Владлен Юрченко [Vladlen Yurchenko] spielten keine Rolle. Hier hätte das Gegenteil aber auch verwundert.

Gesamtblick

Wenig Verletzungen, überzeugende Einzelleistungen der Spieler und eine gute Harmonie im Team sind schon als Erfolgsgründe herausgearbeitet. Dazu zählen muss man definitiv aber auch die taktische Flexibilität. Es zeigte sich in den verschiedensten Formationen und Aufstellungen, den oftmals rapiden Einwechslungen schon zur Halbzeit, durch das Wechseln der Seiten der offensiven Flügelspieler, im Besonderen aber auch in der Abwehr. Mal spielte Ρέτσος links, mal in der Mitte, mal rechts, zum Ende musste sogar Baumgartlinger in die Innenverteidigung. Ein Schicksal, dass auch schon Lars Bender traf, der oftmals in der rechten Verteidigung zu finden war. Die defensive Stabilität blieb dabei aber weitestgehend gleich.

Beschönigung durch die Tabelle

So groß das Potenzial auch war, so eklatant waren auch die Schwächen. Beides habe ich bereits beschrieben. Tabellenplatz und Leistung bedingen einander zwar, sind aber nicht gleichzusetzen. Hätte die Werkself z.B. in Dortmund nicht 0:4, sondern nur 1:3 verloren, hätte es für die Championsleague gereicht und Kritiker würden Gefahr laufen, die Saison in einem besonderen Maße zu beschönigen. Auch wenn in der Gesamtperspektive diese zwei Tore eigentlich keine Rolle spielen.
55 Punkte holte die Werkself, das reichte für Hoffenheim und Dortmund für die direkte Qualifikation zur Championsleague. Ein weiterer Grund, warum eine Analyse sich nicht zu sehr auf diese verpasste Chance konzentrieren sollte, ist, dass seit der Jahrtausendwende 55 Punkte nur dreimal für den vierten Platz reichten, also nur in 16,66% der Saisons, da im Durchschnitt der Vierte 59 Punkte hatte.
Im internationalen Vergleich bestätigt sich dieser Eindruck. 55 Punkte entsprechen 1,62 pro Spiel. Der Vierte in der Premier League holte 1,97, der La Liga 1,92, der Serie A 1,89 und Marseille als Viertplatzierter der französischen League 1 sogar 2,03 Punkte pro Spiel.

Fazit

Es war auf vielen Ebenen eine gute Saison und vor allem eine ruhige. Aus der medialen Perspektive war es eine Spielzeit ohne Rudi Völler. Keine wütenden Auftritte im Stadion, vor dem Mikrofon oder in irgendwelchen Interviews. Es gab aber auch keinen Roger Schmidt mehr, den es zu verteidigen gäbe, oder derartige Leistungsprobleme, die er zu kaschieren versuchte.
Bei aller Tragik ist die Europa League ein verdientes Resultat und das Fundament für die nächste Saison ist geschaffen. Alles gut.

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